rückblickend  aufbauend

Gemeindebuch Lech – Buchgestaltung

Mitte der 1990er-Jahre rief mich der Bürgermeister von Lech, Ludwig Muxel, an und meinte, dass ihm durchaus bewusst sei, dass unser Atelier keine Tourismuswerbung mache. Gerade deshalb wolle er das Erscheinungsbild für die Gemeinde Lech von uns gestalten lassen. Er erkannte, dass im touristischen Marketing und in der Kommunikation einer Gemeinde zwei Uhren mit verschiedenen Rhythmen ticken. Wir haben für die Gemeinde ein Corporate Design zur einfachen Umsetzung in der alltäglichen kommunalen Arbeit entwickelt. Protokolle, Gemeindezeitung, Bescheide, Hunderte von Hinweisschildern – die Flut der Anwendungen in einer öffentlichen Verwaltung ist groß. Als Basis des Corporate-Design-Programms haben wir bewusst kein neues Zeichen, sondern das heraldisch gewachsene Wappen revitalisiert und mit einer vielschichtigen Schriftfamilie verknüpft. Die Farbelemente des Wappens bestimmen auch das Farbspektrum des Erscheinungsbilds, das die Gemeinde seither nutzt und pflegt. Alle Elemente der Gestaltung funktionieren nach einem festgelegten Reglement für Anwendungen wie Korrespondenzen, digitale und analoge Informationsmittel bis hin zum Wegleitsystem der Gemeinde. Typografisch konzentrierten wir uns auf eine facettenreiche Schrift, die offiziell, neutral, traditionell und dann doch wieder zeitgemäß zu wirken vermag. Die Schriftfamilie Trinité von Bram de Does aus dem Hause Enschede leistet genau das. Laut Peter Matthias Noordzij von Enschede war die Gemeinde Lech 1995 der bislang einzige Nutzer dieser Schrift in Österreich. Ihre normalen Schnitte sind leicht in Leserichtung geneigt, die einzelnen Buchstaben in hoher formaler Qualität geschnitten, das Ergebnis ist ein souveränes und ruhiges Satzbild mit Anmut und guter Lesbarkeit. Das Spezielle an dieser Antiqua ist die Erweiterung der Schrift­familie mit drei unterschiedlichen Ober- und Unterlängen. In einer Matrix definierten wir verschiedene Anwendungsbereiche für unterschiedliche Schriftschnitte: feierliche, getragene Urkunden im kalligrafischen Kursivschnitt mit hohen Ober- und Unterlängen, für Hinweisschilder der reguläre Schriftschnitt in mittlerer Stärke mit geringen Ober- und Unterlängen. Die eigentliche Gestaltungsarbeit bestand darin, die Gemeinde in die Lage zu versetzen, selbstständig Mittel der Information und der Kommunikation zu gestalten und teilweise auch zu produzieren. Nur außergewöhnliche Anwendungen gestalten wir im Atelier, unter anderem seit 1996 jährlich die Veranstaltungsgrafik für das Symposium Philosophicum Lech (in freischaffender Zusammenarbeit mit dem Grafiker Bernd Altenried) sowie das Gemeindebuch Lech.

Gemeindebücher haben in erster Linie die Bevölkerung einer Gemeinde zur Zielgruppe. Der Anlass für eine solche Publikation ist meist verbunden mit dem Wunsch, die Geschichte und Charakteristik eines Ortes darzustellen und über vertiefende Informationen die räumliche, kulturelle und soziale Ausprägung zu beleuchten. Eine weitere, fast ebenso wichtige Zielsetzung besteht darin, den Ort im Fokus wissenschaftlicher Erkenntnisse von heute darzustellen, um dieses Wissen späteren Generationen bereitzustellen. Im Gegensatz zu breit gestreuten und flüchtigen Informationen sind solche fundierten und qualitativen Inhalte sehr gut im Medium Buch aufgehoben. Die Wertschöpfung gut gemachter Gemeindebücher liegt in der langfristig bewusstseinsbildenden und identitätsstiftenden Wirkung.
Die Beiträge zum Gemeindebuch Lech befassen sich mit dem Natur-, Lebens- und Wirtschaftsraum, mit der spezifischen Geschichte und Identität der Walser. Die Schwerpunktsetzung innerhalb der einzelnen Beiträge oblag den verschiedenen Autorinnen und Autoren. Die große Herausforderung für uns bestand darin, für die wissenschaftlich aufbereiteten Inhalte und das vielschichtige Bildmaterial aus unterschiedlichsten Quellen ein gestalterisch einheitliches Gerüst zu definieren und durchgängig umzusetzen. Der anaxiale, halbbrüchige Satzspiegel sowie ein konsequenter Maßrhythmus boten uns die Möglichkeit, die Randkolumnen mit viel Weißraum großzügig zu bespielen und damit den nötigen Rahmen für völlig unterschiedliche Text-Bild-Kombinationen abzustecken. Das Schriftmenü beinhaltet für den Lauftext die im Corporate Design vorgegebene Trinité in lesefreundlicher Diktion in Kombination mit klein gesetzten Marginalien in der Foundry Sans von David Quay und Freda Sack.

Der vom Kleinen bis ins Große, in der finalen Phase in freischaffender Zusammenarbeit mit dem Typografen Lutz Krause durchgearbeitete Buchkern wird in hervorragender Litho- und Druckqualität hergestellt und in bibliophiler Art ausgestattet und gebunden. Geschützt ist er von einem neu entwickelten Vor- und Nachsatzkonzept aus Voll-Leinen sowie einem Schutzumschlag, dessen Gestaltung zwei Seiten aufweist: Er zeigt ein topografisches Motiv des Gemeindegebiets, einmal im Winter und einmal im Sommer im gleichen Ausschnitt. Die Charakteristik dieser Bilder ist so stark, dass auf eine Beschriftung mit dem Buchtitel bewusst verzichtet wurde.

Reinhard Gassner


Die schönsten deutschen Bücher 2015, Begründung der Jury

Ein Schutzumschlag ohne Titel – seltsam, kein Wort steht vorne drauf. Ein Foto erstreckt sich als Großformat über das komplette Umschlagformat samt Rückseite und Klappen. Als ob das Druckwerk von einer Tarnkappe verhüllt wäre; das ist der Effekt, wenn man mit unscharf gestellten Augen die Camouflageflecken – diese für Satellitenbilder typische Ikonografie – wahrnimmt, die dann im Fokus als Hochgebirgsregion auszumachen sind. Einzig auf dem Rücken liest man die gehörig gesperrten Versalien: Gemeindebuch Lech. Die Kürze der Klappe verleitet die Hand dazu, den Umschlag abzustreifen, was man ja normalerweise nicht tut. Und siehe da: Dasselbe Gelände im selben Ausschnitt im verschneiten Winter. Der nächste Griff geht zum Buchdeckel und landet auf dem Leinenbezug, zwischen dessen heller Kette und Schuss eine dunkle Grundierung durchschimmert. Er macht einen robusten, aber vor allem natürlichen und sehr feinen Eindruck. Die dort geprägte Titelzeile in der schon vom Umschlagrücken bekannten Form verleiht dem Werk sogar etwas Feierliches. Überraschenderweise verlängert sich das Tasterlebnis, denn für das Vorsatz wurde dasselbe Gewebematerial gewählt. Welcher Laie hat schon einmal die Gelegenheit, ein Buchleinen von hinten zu sehen?

Viel mehr noch gäbe es zur gestalterischen Aufmerksamkeit und Sorgfalt des ganzen Buchinhalts zu sagen, vom asymmetrischen Satzspiegel, den schönen Kontrasten der Schrifttypen, der sinnfälligen und abwechslungsreichen Bildpositionierung. Ein Alpendorf gönnt es sich, seine Landschafts-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte in einem geschmackvoll produzierten Buch zu präsentieren, völlig getragen von dem Selbstbewusstsein, so sehr in die natürlichen Gegebenheiten eingebettet zu sein. Ohne Standortideologien, ohne politischen Hochglanz.

Elmar Lixenfeld, Text Gestaltung Publikation, Frankfurt am Main