buchstäblich bildhaft

Ein sichtbarer Code, ein unsichtbarer Text – Glasgrafik Hafengebäude Bregenz

Die Glasgrafik am Bregenzer Hafenterminal ist bei genauer Betrachtung eine verschlüsselte Schrift. Auf Basis eines Wettbewerbs erhielt die Planungsgemeinschaft Hafen Bregenz den Auftrag für den Neubau des Hafengebäudes, das im Zusammenhang mit der Revitalisierung der gesamten Hafenanlage stand. Die im ersten Entwurf vorgesehene Architektur für das Hafengebäude ging von einer strengen, kubusartigen Grundform aus. Durch Einmischung von Laien, notorischen Leserbriefschreibern und politisch motivierten Nutznießern wurde der Entwurf jedoch mehrheitlich abgelehnt. Ein neu angesetzter Planungsprozess unter Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern ergab letztlich eine formal konträre Lösung: Der Bau war nun niedriger, hatte eine geschwungene Form, ein wellenartiges Dach und die Wände waren nicht massiv, sondern offen und transparent. Allerdings hatten die Planer nicht mit der damals gerade wirksam gewordenen Ö-Norm für Sicht- und Anprallschutz bei begehbaren Glaselementen gerechnet. Diese wurde umso strenger ausgelegt, als es sich hier um ein öffentliches, gut frequentiertes Gebäude handelt und Teile der insgesamt 80 wandhohen Glaselemente aufgeklappt als Eingang dienen. Vorgeschrieben wurde die Unterbrechung der Durchsichtigkeit alle 5 × 5 Zentimeter, mit hohem Hell-Dunkel-Kontrast und ca. 50-prozentiger Bedeckung in der Sichthöhe von 0,9 bis 1,35 Meter.
Unsere Aufgabe bestand darin, einen solchen Sichtschutz auf der Glasfassade aufzubringen, ohne die architektonische Gestaltung und Transparenz der Gebäudehülle zu beeinträchtigen.

Ein gewisser Respekt vor den restriktiven Auflagen der Ö-Norm war nicht von der Hand zu weisen. Letztlich aber gab gerade dieses normative Korsett einen Impuls für die gestalterische Lösung. Zu dieser Zeit las ich das Buch „Der Koffer meines Vaters“ von Orhan Pamuk und stieß auf den bemerkenswerten Satz: „Wenn ich Schrift bin, meine ich ein Bild zu sein. Wenn ich ein Bild bin, meine ich Schrift zu sein.“ Schon lange beschäftige ich mich mit der rein formalen Seite der Buchstaben und Ziffern. In dem Moment, in dem sie für uns reine Informationsträger geworden sind, sehen wir ihre formale Qualität nicht mehr. Wir entdecken die Schönheit von Schriftzeichen nur noch in Buchstaben, die wir nicht oder kaum lesen können. Das Wort ΟΔΟΣ beispielsweise in griechischen Versalien wirkt wie ein kunstvoll gestaltetes Logo. Es heißt aber einfach nur „Odos“ – Weg – und steht auf Millionen von griechischen Straßenschildern.

Ich dachte also an eine Textur, aber nichts Lesbares, an ein Bild, aber nichts Gemaltes. Mitten in der Entwurfsphase hatte ich an einem Samstag Besuch von einem ehemaligen Praktikanten, Sebastian Rauch. Wir diskutierten über den binären Basiscode. Schwarz und Weiß waren doch ein Paar, gleichzusetzen mit 0 und 1. Ich sah die Chance, dieses Zeichensystem, das den Menschen bis auf wenige Spezialisten verborgen bleibt, ans Licht zu holen, entsprechend Pamuks Gedanken: scheinbar als Bild, aber eigentlich als Text. Gleichzeitig eröffnete sich damit ein flexibles Programm für die formale Gestalt der Grafik. Festlegen mussten wir nur Inhalt, Zeichenform und Satzweise. Den Inhalt lieferte der Publizist Otto Kapfinger mit einem eigens erstellten Text zum Thema Glas und Transparenz mit der genau erforderlichen Zahl von exakt 2206 Zeichen. In der grafischen Umsetzung wurde der Text unlesbar und damit praktisch zu einem nicht entschlüssel­baren „Blindtext“.

Schrift entwickelte sich in Tausenden von Jahren aus anfänglichen Bildzeichen über Alphabete bis zur digitalen Kommunikation, die nur noch auf zwei Signalen basiert. Für die Formgebung der Basiselemente griff ich zurück auf die Geburtsstunde des Alphabets. Am Ostufer des Mittelmeers, im damaligen Ugarit, nahmen Alphabete als System schriftlicher Kommunikation ihren Anfang – bereits im 14. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Im Jahr 2005, im damals so friedlich und gastfreundschaftlich empfundenen Syrien, entdeckte ich im Damaszener Nationalmuseum das angeblich früheste Fundstück der Schriftgeschichte des Alphabets – ein fingergroßes Stück Lehm mit 30 eingeprägten keilalphabetischen Zeichen, von links nach rechts aneinandergereiht. Anstelle der Ziffern 0 und 1 definierte ich in Gedanken an diese großartige Schriftgeschichte zwei unterschiedliche Keilformen in Schwarz und Weiß. Konzept war die visuelle Rückbindung an das Keilalphabet, die Sichtbarmachung des Binärcodes und gleichzeitig der dem Text innewohnenden rhythmischen Struktur und Ordnung. Was man letztlich sieht, bleibt offen: ein Möwenschwarm im Gegenlicht, eine Regatta auf bewegten Wellen oder einfach nur scheinbar zufällig variierte Ornamente und Muster. Das spielerische Erscheinungsbild wurde durch eine furchenwendige Schreibweise verstärkt. Zu dieser Entscheidung hat mich eine ca. 2500 Jahre alte Inschrift in Gortys auf Kreta inspiriert. Der Gesetzescodex wurde in 2,5 Zentimeter hohen Versalien in einem dorischen Dialekt abwechselnd von links nach rechts und rechts nach links geschrieben. Nicht nur die Buchstabenfolge der Worte, sondern auch die Zeichen selbst passen sich der jeweiligen Leserichtung an und sind daher in jeder zweiten Zeile spiegelverkehrt. Genauso verhält es sich bei den Blocksatzspalten der Glasgrafik. Die furchenwendige Schreibweise erschwert die Entschlüsselung des Textes selbst für geschulte Informatiker. Dies war aber nicht beabsichtigt, sondern ist bedingt durch eine formale Entscheidung, die dem grafischen Gesamtbild mehr Bewegung verleiht. Für die binäre Schrift wird pro Zeichen inklusive Leerzeichen eine Kombination von acht 0/1-Elementen benötigt. Um die geforderte Bedeckung des Glases zu erfüllen, setzten wir die 5 Zentimeter hohen „Buchstaben“ im Blocksatz, ohne Abstand zwischen Zeichen und Zeilen. Es entstanden abstrakte Satz­spalten mit jeweils acht Zeilen in einer Breite von durchschnittlich 1,60 Metern im „harten“ Umbruch, fortlaufend gesetzt auf 80 Glasscheiben. So schließt sich der Kreis: Heutige, in den Tiefen der Computer-Schaltkreise versteckte Informationstechniken werden mit formalen Mitteln uralter Schriftkulturen kontrastreich zur Schau gestellt.

Reinhard Gassner