ausschweifend kontemplativ

Vedi Napoli e poi muori: Grand Tour der Mönche  – Ausstellung Stiftsarchiv St. Gallen

Der erste Besuch des klimatisierten „Tresorraums“ im Stiftsarchiv St. Gallen mit dem Stiftsarchivar Peter Erhart war ein ganz besonderer Augenblick. Wir trafen auf ein faszinierendes Ordnungs­­system mit Schränken, Laden, Schatullen und Mappen für kunst­­­­voll gefertigte Karten und Schriftstücke, die nur mit Handschuhen angefasst werden durften. Dazu kamen Bücher in wandhohen Regalen – mit Respekt nahmen wir die handschriftlichen Originale und ersten Druckerzeugnisse in die Hand. Die Buchformate mittelgroß, freigespielt von heutigen Standardisierungen, in Einbänden mit fantastischen Materialien aus Kartonagen, Leinen und Leder.

Die fadengehefteten, handgebundenen Bücher ließen sich gut öffnen und vermittelten in individuellen Bindedetails hohe Funktionalität. Überrascht waren wir über die außergewöhnliche Form der Satzspiegel und Buchumbrüche. Oft waren die Seiten in der vertikalen Mitte geteilt, die Außenspalten leer oder nur marginal benutzt und die eng zum Bund liegenden Textspalten randlos von oben bis unten beschrieben, mit präzisen Kalligrafien in kleinen Schriftgrößen, mit bewegtem und doch rhythmischem Duktus. Der Archivar erklärte uns diese „halbbrüchige“ Gestaltung damit, dass Platz gelassen werden musste für nachträgliche Eintragungen, Kommentare und Ergänzungen. Bald zeigte uns Peter Erhart die von ihm gehobenen Fundstücke, um die es eigentlich ging: vier originale Tagebücher reisender Mönche. Die beiden Kuratoren, Peter Erhart und Jakob Kuratli Hüeblin, wollten diese seltenen Dokumente benediktinischer Reisekultur erstmals der Öffentlichkeit präsentieren. Sie planten eine Ausstellung im Kulturraum des Stiftsarchivs, einen Ausstellungskatalog sowie wissenschaftliche Publikationen mit Übertragung der lateinischen Texte ins Deutsche und Italienische. Es ging bei diesen Tagebüchern um Reisen in den Süden, so wie sie damals für Adelige, Musiker und Literaten üblich waren, mit religiösem Hintergrund und entsprechenden Reisezielen: An erster Stelle stand Rom als spirituelle Mitte, dann ging es weiter nach Neapel, das als schönste Stadt der damaligen Zeit galt.

„Vedi Napoli e poi muori (Neapel sehen und sterben) – Die Grand Tour der Mönche“, so der Titel des Projekts, der auf das Reisen und Leben, das Weltliche und das Geistliche anspielt.
Die Kollegen von TGG Hafen Senn Stieger aus St. Gallen hatten schon mehrfach Ausstellungen für das Stiftsarchiv gemacht und zeichneten verantwortlich für das begleitende Katalogkonzept. Wir entwickelten gemeinsam mit den Kuratoren das Briefing für die Gestaltungsarbeiten bis hin zu skizzenhaften Diskussionsvarianten. Die Zusammenarbeit mit Dominik Hafen war von konstruktivem Geiste geprägt. Aus ökonomischen Gründen konzentrierte sich TGG im weiteren Verlauf auf die Katalogarbeit, während wir die Ausstellungsgestaltung vorbereiteten.
In ersten Entwurfsansätzen spielten wir mit Themen wie „Reisen“ und „Wege“. Vitrinen und Exponate schwebten in verschiedenen Höhen durch den Ausstellungsraum. Bei näherer Befassung wurde jedoch klar, dass wir damit das Momentum der Reisekultur der Mönche nur oberflächlich trafen. Dieses lag tiefer. Es ging um die Intentionen und Aufträge, die mit den Reisen verbunden waren. Die Mönche hatten seitens der Äbte klare Instruktionen.

Sie verstanden ihre langwierigen, oft mühsamen Wege auch als Pilgerreisen. Diese Überlegungen brachten uns auf den Gedanken, mit gedachten und realen Räumen zu arbeiten. Wir sprachen von den Spannungsfeldern des klösterlichen und des weltlichen Lebens, des Steten und des Unsteten.
Aufgabe war, das Thema selbst und die wertvollen Ausstellungsstücke dazu zu strukturieren und szenografisch in einem Raum mit ca. 600 Quadratmetern zu präsentieren. Die Kuratoren griffen unsere Idee von begehbaren Boxen auf und belegten diese mit Themen und Qualitäten der Reisen. Sie erkannten sofort, dass die Ausstellung durch diese Struktur gut erschließbar war und sich damit auch das Dilemma zwischen geografisch oder chronologisch orientierter Abfolge auflöste. Sie benannten die vier Boxen mit „Peregrinatio“ (Wallfahrt), „Instructio“ (Dienstreise), „Recreatio“ (Erholung) und „Memoribilia“ (Erinnerungsstücke).

Reinhard Gassner

Es kristallisierte sich heraus, dass für die Ausstellung der räumlich-architektonische Aspekt entscheidend war. Wir schlugen deshalb die Zusammenarbeit mit Alberto Alessi vor, der selbst mehrere Jahre in Rom als Architekt und Ausstellungsmacher gearbeitet hat. Die Zusammenarbeit mit Alessi war für die Gestaltung der Ausstellung eine wichtige Grundlage. Um ein Gefühl für das Thema zu bekommen, gingen wir gemeinsam auf „Grand Tour“. Diese Rom-Reise brachte eine besondere Erfahrung. Wir lernten durch Alessi die Stadt aus nicht alltäglichen Blickwinkeln, aus den unterschiedlichsten und ungewöhnlichsten Perspektiven kennen – Dachlandschaften, Illusionsräume, Blickdiagonalen, kul­­tur­historische Details. Was uns interessierte, waren Muster, Manie­rismus und Barock. Der Palazzo Colonna war dafür eine Fundgrube – die Tapeten mit ihren Ornamenten, prallvoll gehängte Gemälde­galerien im Sinne der klassischen Quadreria, polychrome Marmor­intarsien im „Stile cosmatesco“ etc. Die hier wahrnehmbare Leidenschaft für Farbe, Bild und Muster brachte uns entscheidende formale Impulse für die Gestaltung. Auch die Beschäftigung mit räumlicher Wahrnehmung be­gleitet uns immer wieder in unserer Arbeit. Bei der Ausstellung für das Stiftsarchiv St. Gallen war die zentrale Frage die Raum-im-Raum-Gestaltung. Welche Größe für die Boxen funktioniert, da­­-
mit die Besucher sie begehen können? Sind sie groß genug für die Exponate? Wie werden die offenen Boxen und Deckel im Raum positioniert, damit sie mit Gassen und Plätzen einer Stadt assoziiert werden? Was bedeutet dies für die Besucher­führung? Wie werden die Innenräume der Boxen gestaltet?

Andrea Gassner

Alberto Alessi entwarf eine Holzkonstruktion mit Balken und Grobspanplatten, zugleich widmete er sich auch der Planung der Exponat-Vitrinen. Die quadratischen Boxen umfassten jeweils ca. 20 Quadratmeter. In der Außenwirkung ließen sie gleichsam eine Art Stadtraum mit Gassen, Ecken, Plätzen und Räumen entstehen. Durch das Öffnen der vorderen Wand wurden Innenräume erschlossen, die atmosphärisch auf Studioli, sprich Studier- und Arbeitszimmer, verwiesen. Hier konnte sich im Wesentlichen das Eigenleben der Schaustücke entwickeln. Im Kontrast zum dunkel gehaltenen Äußeren tauchten wir die Innenräume durch grafische Ornamente an den Wänden und am Boden in eine manieristisch aufgeladene Atmosphäre.

RG

Inspiriert von den Tapetenwänden im Palazzo Colonna visu­a­­­lisierten wir mit den Initialen der Boxennamen – P, I und R – individuelle Ornamentmuster. Das Farbklima und die Art der Muster wurden den Themen zugeordnet. „Peregrinatio“ erschien in einem besinnlichen dunkelviolett, „Instructio“ in strengen, staubig beige-braunen Farben und „Recreatio“ in einem blumig-frischen Grün. Die Böden der Boxen waren in jeweils gleichem Farb­klima mit rankenhaften Kreisornamenten, abgeleitet aus den Initialen,
direkt bedruckt. Im Gesamten flackerten die Innenräume der Boxen wie Kerzen im Raum und unterstrichen eine mystisch angehauchte Atmosphäre. Bei aller pathetischen Aufladung und manieristischen Überhöhung war uns immer eine ausgewogene Balance zwischen Gestaltung und Inhalt wichtig. Drängt sich einer der beiden Bereiche zu sehr auf, kippt die gesamte Ausstellung. Im Spiel zwischen Dichte und Weite, Licht und Dunkelheit, Spannung und Ruhe konnten wir in St. Gallen eine angemessene Inszenierung für die großartigen Exponate finden.

Als Flächenverkleidung der Boxen wählten wir einfache OSB-Platten, die durch ihre groben Späne bereits selbst eine starke
visuelle Struktur bilden. Wie aber konnten diese Platten strapa­zierfähig und effektvoll bedruckt werden, um bewusst eine gegen­­­-
seitige Überschreibung der grafischen und der dem Material
zugrunde liegenden Muster zu erhalten? Es benötigte eine leichte
Grundierung der Platten und zahlreiche Versuche mit groß­flä­chigem Inkjet-Druck, um die gewünschte stoffliche Ober­flächen­­wirkung zu erreichen. Aus funktionalen Gründen der Beleuchtung und der Raumhöhe selbst konnten wir den Studiolis keine Decken und dem Ausstellungsraum keinen Himmel schenken. Wir entschieden uns allerdings dazu, in der vierten Box „Memorabilia“ einen römischen Himmel auf den Boden und an die Wände zu drucken, um damit den Resonanzraum der Andeutungen zu komplettieren. Diese Box wurde wie eine Wunderkammer gestaltet: mit einer Dichtheit an Exponaten und Darstellungspraktiken, von der Laterna Magica über Guckkastenbilder bis zur Quadreria.

AG

Der Boden des Ausstellungsraums stellte uns vor eine besondere Herausforderung – ein hochglänzend lackierter, dunkelbrauner Parkettboden. Dieser ließ sich mit der Szenografie, die den Außenraum der Boxen als eigene Inszenierungsebene vorsah, nicht vereinbaren. Wir prüften dünne Lehmaufträge und stießen sofort auf Vorbehalte wegen der Feuchtigkeitsbelastung. Durch unser Insistieren erwirkten wir, dass der Boden vor der Ausstellungseröffnung geschliffen wurde. Ein massiver, warmgrauer Olivenholzboden, wahrscheinlich der größte nördlich der Alpen, kam zum Vorschein und bildete eine geradezu ideale Assoziation zu den Themen Wege, Gassen und städtische Räume. Zur Schonung des Bodens durfte die Ausstellung nur mit Filzpantoffeln begangen werden, was sich als Gewinn erwies. Die auf dem Boden dahinschleifenden Besucherinnen und Besucher erlebten eine andere Wahrnehmung, verlangsamt in der Bewegung und gedämpft im Klang.

RG